Es ist nirgendwo in Stein gemeißelt, dass Großbritanniens europapolitisches Misstrauensvotum ein Unikum bleiben muss. Denn mit dem Brexit ist das Exit-Tabu gebrochen und wurden in vielen Ländern politisch schlafende Hunde geweckt. Und es geht nicht nur um den Bestand der EU, sondern auch um den der Eurozone. Dabei sollte man nicht immer nur an die üblichen Austrittsverdächtigen Griechenland, Zypern oder Portugal denken. Es geht um ein viel bedeutenderes Land, Italien, das als Gründungsmitglied der EWG 1957 für europäisches Herzblut so tiefrot wie Tomatensauce von Miracoli steht.
Italien ist der wirtschaftlich kranke Mann Europas
Ich persönlich liebe Italien. Seine Kultur, die phantastischen Landschaften und Bauwerke, seine großartigen Menschen und die grandiose Küche gehören zum Besten, was ein Land bieten kann. Wirtschaftlich zählen diese soft facts allerdings wenig bis nichts. Da geht es um hard facts. Und die tun weh. Denn Italien geht es richtig schlecht. Während Italiens Industrie ihr Produktionsniveau von vor der Finanzkrise 2008 noch nicht annähernd erreicht hat, konnte Deutschland diesen Einbruch längst wieder wettmachen.
In den letzten 20 Jahren hat Italien gegenüber Deutschland über 40 Prozent an Wettbewerbsfähigkeit verloren. Italien ist vielfach zu einem Industriemuseum geworden. Man macht weiter gerne Urlaub in Bella Italia, aber wer dort als Unternehmer investiert, muss schon über ein hohes Maß an ökonomischer Schmerzfreiheit verfügen.
Unternehmenspleiten gehören heutzutage ebenso zum italienischen Wirtschaftsalltag wie Not leidende Kredite, die laut IWF auf 80 Prozent des vorhandenen Eigenkapitals der Banken gestiegen sind. Diese riechen teilweise so faul, dass die Sachbearbeiter in den Kreditabteilungen Nasenklammern tragen. Die Jugendarbeitslosigkeit beträgt fast 40 Prozent. Italien droht, eine ganze Generation zu verlieren, auch für die europäische Idee.
Signore Renzi, versuchen sie es doch mal mit Wirtschaftsreformen!
Italiens Wettbewerbsschwäche ist sicher kein Naturgesetz. Theoretisch könnte die amtierende Regierung Matteo Renzi den italienischen Wirtschafts-Karren mit harten Reformen aus dem Dreck ziehen.
In der Praxis sind dieser wirtschaftlichen Logik jedoch Grenzen gesetzt: Denken wir zurück an einen Amtsvorgänger Renzis, Wirtschaftsprofessor Mario Monti. Wie lange Zeit die DFB-Elf gegen die Squadra Azzurra im Fußball kämpfte er mit seinen Reformambitionen erfolglos gegen den politischen Widerstand in Rom. Seit seinem Scheitern und Ausscheiden aus dem Amt gilt in der römischen Polit-Landschaft das Motto „Wer reformiert, wird abgewählt“. Vor diesem Hintergrund ist auch Matteo Renzi auf der Reformebene so beweglich wie das Kolosseum. Bloß niemandem mit Strukturmaßnahmen auf die Füße treten, die zunächst schmerzhaft sind und zur Rache des Wählers führen können. Doch hat der amtierende Ministerpräsident nicht vehement versprochen, Italien von Grund auf zu reformieren? Entschuldigung Signore Renzi, Pinocchio ist eine italienische Kunstfigur, richtig?
So wie Bewegungsarmut bei Rückenschmerzen nicht nur keine Linderung, sondern längerfristig noch mehr Schmerzen bedeutet, führt die „politisch korrekte“ Reformunbeweglichkeit Italiens nur zu chronischen Wirtschafts-Leiden: Noch weniger Wachstum, noch mehr Arbeitslosigkeit, noch weniger Rente, insgesamt noch weniger Perspektive.
Schon heute gibt bereits die Hälfte aller Italiener dem Euro die Schuld an der Wirtschaftsmisere. Vor der nächsten Nationalwahl spätestens 2018 muss man sich ernsthaft Sorgen machen. Eine populistische Euro-kritische Partei, die Italien aus der Eurozone führen will, bekommt immer mehr Zulauf. Man redet den Italienern ein, dass das Land den Euro nicht aushalten kann. Nicht auszuhalten sind jedoch die reformscheuen italienischen Politiker. Das sind die wahren Schuldigen an der Perspektivlosigkeit.
Und wenn du denkst, es geht nicht mehr, muss einfach noch mehr Staatsverschuldung her
Um dieser sclerosi italiano, die sich auch zur unabwendbaren Eurosklerose entwickeln kann, massiv entgegenzutreten, setzt man auf ein altbewährtes Rezept, einen evergreen ähnlich wie der italienische Schlager „Quando, Quando, Quando“. Durch üppige Staatsverschuldung soll der Sozialstaat stabilisiert und die Wirtschaftsleistung Italiens zumindest auf stagnierendem Niveau gehalten werden.
Zwar passen ausufernde Schulden zu den Maastricht Stabilitätskriterien wie Flecken auf die weißen Fliesen eines italienischen Eiscafés. Aber ohne sie – so verkündet es die Regierung Renzi mit Inbrunst immer wieder Richtung Brüssel – drohte Italien politische Handlungsunfähigkeit, sogar der „Itexit“, der auch die Eurozone final das Leben kosten würde. Durch ansonsten drohende soziale Unruhen und eine Euro-Auflösung sollen die italienischen Stabilitätssünden also geheilt werden. Wie rührend und uneigennützig! Man könnte es aber auch Erpressung nennen.
Und wie reagiert man in Brüssel? Großzügig! Die großen Drei Europas – Merkel, Hollande, Renzi – haben längst beschlossen, den Europäischen Stabilitätspakt nicht so strikt zu interpretieren. Übersetzt heißt das: Damit Italien bei der europäischen Fahne bleibt, darf es Schulden machen bis die Minestrone überkocht. Der politische Zweck heiligt alle stabilitätsfremden Mittel. Die großen Drei Europas haben sich zum Trio Infernale entwickelt: Die Europäische Stabilitätsunion ist längst zur Romanischen Schuldenunion verkommen.
Mario macht der italienischen Regierung ein (Zins-)Angebot, dass sie nicht ablehnen kann
Leider haben Schulden zwei negative Eigenschaften: Sie müssen zurückgezahlt und in der Zwischenzeit mit Zinsen bedient werden. Beides tut dem Staatshaushalt weh und insbesondere Italien, dass bereits bis Oberkante Unterlippe verschuldet ist. Eine üppige Neuverschuldung ist von Italien heutzutage unter normalen Bedingungen nicht mehr zu stemmen, ist viel zu schmerzhaft.
Aber für dolore gibt es eigentlich keinen Grund. Das italienische Finanzleben kann durchaus süß sein. Denn die EZB spielt den Durchlauferhitzer für Italiens Schulden: Sie kauft massenhaft italienische Staatspapiere auf, die ansonsten wie Ladenhüter in den Regalen des Finanzministeriums liegen blieben. Mit dieser Liquiditätsschwemme drückt sie gleichzeitig die Schuldzinsen auf ein für Italien erträgliches Niveau. Vor dem Euro-Rettungsversprechen von Notenbankpräsident Mario Draghi im Juli 2012, zur Not unbegrenzt Staatspapiere der Euro-Länder aufzukaufen, lag der Durchschnittszins für italienische Staatstitel bei harten vier und aktuell bei unter weichen 0,4 Prozent. Das nenne ich dolce vita.
Und ist es nicht einen Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften wert, dass Mario Draghi damit die heutige Zinsbelastung des italienischen Staatshaushalts im Vergleich zu 2011 marginalisiert, obwohl die Staatsverschuldung seit Einführung des Euros bis heute um über 60 Prozent zulegte? Draghi ist ein finanzpolitischer Held. Er erinnert an Cäsar: Ich kam, sah und siegte!
Die geldpolitische Leistung ohne reformpolitische Gegenleistungen hat gewaltige Haken
Bei Mario Draghis heldenhaftem Eingreifen kommt es allerdings zu gewaltigen Risiken und Nebenwirkungen. Wenn die Regierung in Rom zu Schnäppchenpreisen Staatsschulden machen kann, hat sie noch weniger Anreize, dringend notwendige Reformhausaufgaben zu machen. Warum sollte sich Italien auch selbst bewegen, wenn die EZB Italien fremd bewegt? Doch leider sind Unternehmen nicht gezwungen, in diese Reformwüste zu investieren. Die Unternehmen werden sogar aus Italien wie Touristen vor den Tauben auf dem Mailänder Domplatz fliehen. Denn andere Länder haben auch schöne und sogar schönere Industriestandorte. Wird die Wirtschaftslage über diesen Exodus dann noch schlechter, müssen noch mehr Staatsschulden gemacht werden, die die EZB noch weiter finanzieren muss und die die Regierung veranlasst, noch weniger Reformen zu machen.
Insgesamt werden die italienischen Perspektiven für Arbeitsplätze oder Rente also selbst durch Marios Aufputschmittel der Marke „Wer Schulden-Sorgen hat, hat auch geldpolitischen Likör“ nicht besser, sondern sogar schlechter. Das süße Gift des Alkohols wirkt langsam, aber es wirkt.
Und wenn die EZB mit ihrer Liquiditätsdroge gemäß dem Motto „Macht kaputt, was euch kaputt macht“ den für den italienischen Staatshaushalt tödlichen Zins und Zinseszinseffekt immunisiert, infiziert dies gleichzeitig leider auch italienische Zinssparer mit Altersarmut.
Der kalte geldpolitische Entzug ist leider nicht mehr möglich, selbst dann nicht, wenn der übermäßige Alkoholkonsum zu Inflation führt. Denn wenn die Kreditzinsen nüchtern steigen, steht Italia bald emotional ohne Bella da. Dann trifft Cäsar auf Brutus.
Also, wie lange hält Italien den Euro noch aus? Ohne konsequenten Reformwillen hält das Land die Gemeinschaftswährung nur mit dem Liquiditäts-Likör der EZB aus. Trotzdem wird sich der Euro-feindliche Kater danach nicht vertreiben lassen. Denn ohne wirtschaftliche Perspektive kein nachhaltiges dolce vita für Italien. Salute Matteo Renzi, Salute Mario Draghi!
Ein Beitrag von Robert Halver.
Robert Halver ist Leiter Kapitalmarktanalyse bei der Baader Bank AG. Das Haus mit Sitz in Unterschleißheim bei München ist eine der führenden Investmentbanken in Deutschland und Marktführer im Handel von Finanzinstrumenten. Halver beschäftigt sich seit 1990 mit Wertpapieren und Anlagestrategien.
Rechtliche Hinweise / Disclaimer und Grundsätze zum Umgang mit Interessenkonflikten der Baader Bank AG: http://www.bondboard.de/main/pages/index/p/128.
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