Die Perestroika des Kapitalismus - Episode 10: Unentbehrliche Verschwendung und die Mär von der Entkopplung (Klaus Woltron)

 Verschwendung


Auszug aus der Chronik für das Jahr 1945/46 meiner Heimatstadt Ternitz in Niederösterreich (ich war zu diesem Zeitpunkt einer ihrer jüngsten Bürger):

„Dem ärgsten Hunger  wurde durch Ausspeisungen abgeholfen. Durch Vermittlung der Gemeinde … erhielten die Schüler ab Oktober 1945 täglich Suppe und ein Stück Brot. Ab 1946 übernahm das Land … diese Ausspeisungen, und in der … Schule organisierte … das Schweizer Rote Kreuz ab Oktober 1946 eine weitere Ausspeisung. Zu dieser Zeit hatten immer noch 73 %der Kinder Untergewicht.“[i]
60  Jahre später,also im Jahr 2005, kann man im Bericht über die 43. Jahrestagung der Österreichischen Gesellschaft für Kinder- und Jugendheilkunde lesen:
„Besonders erschreckend und beunruhigend ist die Tatsache“, so Primar Univ.- Prof. Dr.Karl Zwiauer, „dass es immer mehr hochgradig Übergewichtige gibt, superdicke Jugendliche, die im Alter von 12−15 Jahren teils weit über 100 kg auf die Waage bringen und die die Auswirkungen des Übergewichts ganz besonders deutlich spüren: Sie haben extrem schlechte Berufschancen, sind einer Umwelt ausgesetzt,die sie diskriminiert, und in der sie kein Verständnis vorfinden.“ Die Zahlen sprechen für sich: 28 Prozent der Buben und Burschen zwischen sechs und 18 Jahren haben Übergewicht. Bei den Mädchen in dieser Altersgruppe sind es 25 Prozent. Ein Viertel bzw. mehr als ein Viertel, jedes vierte Kind in Österreich, ist übergewichtig.“[ii]

Sparen wegen des Mangels

 

Als ich sechs Jahre alt war, also 1951, genoss ich meine erste Wurstsemmel. In meiner Heimatstadt –mit damals immerhin an die 6000 Einwohnern − war das Erscheinen eines knatternden Autos eine Sensation, welche die damals zahlreichen Kinder auf die Straße lockte. Einmal im Jahr erhielt man neue Schuhe, die immer wiedergeflickt und repariert wurden. Die Oma schenkte zu Weihnachten gestrickte Socken und Fäustlinge aus Schafwolle, welche juckten und bei Nässe zu harten Klumpen zusammenschrumpften. Mein erstes Fahrrad war aus mehreren alten Teilen zusammengesetzt, die Reifen und Schläuche gebraucht und vulkanisiert. Wenn man das Licht unnötig brennen ließ (in jedem Raum eine Glühbirne) wurde man zusammengestaucht, im Sommer ging man in den Wald, um Föhrenzapfen („Bockerln“)zum Heizen  zu sammeln. Der Opa schnitt im Hof das Reisig und band es mit einer eigenen Vorrichtung zu Bündeln, welche im Winter als Schnellfeuer-Brennstoff für den Sparherd sehr begehrt waren. Beheizt wurden zwei Räume, der Rest blieb kalt. Heutzutage wundere mich manchmal über die große Anzahl liegen gebliebenen, verfaulenden Holzes im Wald, angesichts der Klagen der Heizkostenzuschuss- Bezieher über stets unzureichendes Haushaltsgeld– zumindest jener, die auf dem Lande leben und denen es ein Leichtes wäre,ihren Oma-Ofen zu reaktivieren.

Die Zeiten des Wirtschaftswunders, die Fünfziger Jahre,sahen schon anders aus: 

 

„Dank Marshallplan,Hochkonjunktur und internationaler Aufrüstung boomte auch Österreichs Schwerindustrie. Großkraftwerke … der Ausbau des Straßen- und Eisenbahnnetzes …brachten weitere Großaufträge …1954 folgte eine Steuerreform … Die sichtbaren Zeichen dieser Aufwärtsentwicklung – nach dem Wandel von der „Trümmerzeit“ über den Wiederaufbau zum (kleinen) Wirtschaftswunder – waren das Moped, der Motorroller, bald das Kleinauto, eine neue Küche … mit Kühlschrank, die ersten Waschmaschinen, Mixer und Staubsauger …“[iii]

Anfang des 21.Jahrhunderts gibt es in Österreich 4, 2 Millionen Autos. Seit 1990 ist die Zahl der Pkw um 1,22 Millionen Stück, etwa ein Drittel, gestiegen. Aneinandergereiht ergeben allein die zusätzlichen Autos eine rund 4300 Kilometer lange Autoschlange. An Parkfläche beanspruchen sie eine Fläche von 2200 Hektar, was rund 2930 Fußballfeldern entspricht. Insgesamt werden in Österreich täglich etwa 228 Millionen Kilometer mit dem Auto zurückgelegt.[iv] Allein in meiner zehnköpfigen engsten Familie werden fünf Autos, zwei Mopeds, zwei Motorräder und fünf Rasenmäher betrieben – und wir sind beileibe keine Ausnahme.

 

Diese wenigen Beispiele zeigen, wie der materielle Aufwand und Verbrauch der Menschen in Österreich – durchaus repräsentativ für ganz Europa (mit Ausnahme der CEE- Staaten,die jedoch gerade dabei sind, rasant aufzuholen)  binnen eines halben Jahrhunderts, also nicht einmal  dreier Generationen, ins Astronomische explodiert ist. Der Trend lässt sich auf viele andere Länder und Bereiche übertragen: Der Energieverbrauch der Schweiz z.B. hat sich seit 1960 mehr als versiebenfacht[v],der Flächenverbau und die Bodenversiegelung durch Straßen und Gebäude massiv zugenommen, der Verbrauch aller Artikel des täglichen Bedarfs ist ins Gewaltige gestiegen. Während meine Großeltern ein Müllaufkommen hatten, das sie auf einer winzigen, hinter dem Haus versteckten, hässlichen Deponie (altes Geschirr,Scherben, rostige Kochtöpfe etc.) über Jahrzehnte hin ablagern konnten, muss heutzutage jede zweite Woche ein mächtiges Spezialfahrzeug den Inhalt von zwei vollen großen Tonnen abholen und zur Teil-Wiederverwertung, Verbrennung  bzw. Deponierung transportieren. Deponiert oder verbrannt muss der Dreck jeweils anderswo werden, denn kaum plant eine Gemeinde eine Anlage, um ihren eigenen Müll zu beseitigen, erhebt sich ein großes Geschrei all jener, die den Mist in die Tonnen geworfen haben – Heiliger Florian, verschon MEIN Haus!

 

Früher kam einmal im Monat der „Fetzentandler“ und sang seine alte Melodie „Hasenhäuteln, Fetzen,Eisen, Messing,  Kupfer, Blei…“ Ersammelte alles, was nicht niet- und nagelfest war, gegen ein paar Groschen ein, nichts blieb unverwertet. Heutzutage werden zigtausend Tonnen Plastikmüll, die von den in China, Taiwan, Indien und den CEE- Staaten  erzeugten Spielwaren, Elektrogeräten,Computern etc. stammen, in eigens geschaffenen Wirtschafts- und Rohstoffströmen wieder mühsam entsorgt, aufbereitet und teilweise einer neuen Verwendung zugeführt. Die Rohstoffe werden großteils wieder zurückgewonnen, allerdings umden Preis eines sehr hohen Energieaufwands: Der Zweite Hauptsatz der Wärmelehre lässt sich auch durch noch so gut gemeinte Entsorgungsgesetze nicht außer Kraft setzen. Man kann aus einem Schwein relativ leicht ein Gulasch machen – aber nicht einmal mit gewaltigem Arbeits- und Energieeinsatz ein Schwein aus einem Gulasch. Zumindest kein lebendiges. 

 

Die unentbehrliche Verschwendung

 

Diese Entwicklungen  werden in der einen oder anderen Form implizit zitiert, wenn es um die Frage der Umweltbeeinträchtigung geht. Sie zeigen, neben der Auswirkung des gewaltigen  Material- und Energieverbrauchs, eine viel tiefere Problematik auf, nämlich die Unentbehrlichkeit der Verschwendung und des Überflusses für die Aufrechterhaltung der Weltwirtschaft in der jetzigen Form. Ohne eine immer massivere Verschwendung, die Erzeugung von Artikeln, die durch künstliche Anreize und Schaffung neuer Bedürfnisse in den Wirtschaftskreislauf gelangen, ist unsere heutige Form des Wirtschaftens, der Arbeitsplatzbeschaffung und Vollbeschäftigung nicht aufrecht zu erhalten. Dies kennzeichnet auch den bis dato ungelösten Zielkonflikt jeder Regierung, die einerseits an Vollbeschäftigung, andererseits an der Erhaltung einer lebenswerten Umwelt interessiert sein muss.

 

Die Mär von der Entkopplung

 

Viele Jahre lang hat man die Hoffnung auf die Entkopplung von Material- und Energieverbrauch vom Bruttosozialprodukt genährt. Man hielt an der Illusion einer Dienstleistungsgesellschaft, in der immer mehr Menschen immaterielle Güter liefern, fest und hoffte dadurch den steten Anstieg der Müllberge, den Bedarf an immer neuen Kraftwerken und größeren Treibstoffmengen stabilisieren zu können. Diese Hoffnung hat sich als trügerisch erwiesen. Es gelang zwar, in den hoch entwickelten Industriestaaten eine – sehr geringe – Tendenz in diese Richtung zustande zu bringen, allerdings nur um den Preis der Verlagerung der Material-, Arbeits-, Abfall- und energieintensiven Tätigkeiten weiter nach Osten. Dort sorgen sie nunmehr für eine Explosion des Energie- und Rohstoffverbrauchs. Die billig erzeugten Güter werden in Europa und den USA wiederum zu gigantischen Müllbergen. Die in Industrieländern in Ansätzen feststellbare Entkopplung von Wirtschaftswachstum und Material- und Energieverbrauch täuscht: Der Ressourcenverbrauch wird vermittels weltweiter Arbeitsteilung in die Schwellenländer "exportiert". In Summe nimmt der Rohstoff- und Energieverbrauch gerade durch diese Arbeitsteilung zwischen  Industrie- und Schwellen- bzw.Entwicklungsländern dramatisch zu, und damit auch Emissionen und Müllaufkommen. Ganz abgesehen vom Unfug  des Warentransports über Tausende von Kilometern hinweg, dessen Kosten bis heute nicht wirklich transparent sind(dank einer Mischung aus diversen Exportsubventionen, niedrigsten Löhnen für LKW-Chauffeure und Seeleute auf ausgeflaggten Schiffen, Abwälzen der Kosten für Straßenbau und allfällige Umweltschäden auf die Allgemeinheit usw.) .Eine wirklich ehrliche Bilanz kann heutzutage nur mehr aussagekräftig sein, wenn sie weltweit angestellt wird. 

 

Genau diese Trends sind jedoch auch die Motoren für die Verbesserung des materiellen Wohlstandes,der Steigerung des Beschäftigungsgrades und des Reichtums sowohl der schon reichen wie auch der noch armen Staaten – mit unterschiedlichen Zuwachsraten.Ganz ohne Zweifel profitieren materiell aber alle Menschen davon. Es fragt sichnur, wie lange diese an beiden Enden entzündete Kerze noch brennen wird und was geschieht, wenn immer mehr Machthaber realisieren, dass sich die Dochte beiderseits bedrohlich ihrem Ende nähern. 

 

Wie weit darf Verschwendung gehen?

 

Als Wunschvorstellunggilt, dass es keine Verschwendung geben möge. Das ist einer der Träume jener,die das Wünschenswerte für alsbald Machbares halten. Man wird es jeweils nur bis zu einem mehr oder weniger befriedigenden Zustand der Annäherung schaffen. Solange unsere Wirtschaft von monetärem Wachstum vollkommen abhängig und getrieben ist, wird sie danach streben, zu wachsen, und das tut sie weitestgehend vermittels enormen Verbrauchs von Rohstoffen und Energie. Die einzelnen Wirtschaftssubjekte werden sich immer neue Möglichkeiten des Wachstums suchen, um ihre eigene Existenz zu sichern. Wenn es nicht solche sein können, die den echten Bedürfnissen der Menschen dienen, werden eben künstlich geschaffene Bedürfnisse angedient werden,Produkte, die nicht repariert werden können, überdimensionierte Autos,Wegwerfartikel aller Art, unnötig große Bauten – also Verschwendung um der Beschäftigung von Menschen und Maschinen und des Umsatzes willen. Da der aktuelle Produktionsapparat, also Fabriken, Maschinen, Marketing- und Vertriebssysteme, auf diese Art des Wirtschaftens eingestellt ist, wird es einer anderen Zielsetzung der Wirtschaft bedürfen, um die nötige Umstellung auf die geänderten Bedürfnisse, also Systempflege, Wartung, Recycling, Energiesparen, Kulturelles, Sport, Gesundheit, Ausbildung, Weiterbildung zu bewerkstelligen, eine Umstellung, die den gesamten Produktionsapparat von Grund auf revolutionieren müsste. Irgendwann wird sich der aktuelle Verschwendungsapparat, der eigentlich auch schon, was seine Zwecke und Produkte betrifft, längst überholt ist, diesen neuen Verhältnissen anpassen müssen. In einigen Bereichen ist das ja auch bereits der Fall. 

Hier soll aber nicht der Innovation als Selbstzweckdas Wort geredet werden. Es geht nicht darum, Neugier und Kauflust zu schüren,durch das Präsentieren immer neuer Produkte die schiere Lust am Haben und auch wieder Wegwerfen zu befriedigen. Es geht darum, Innovationen bzw. Einschränkungen zum Wohle aller, also weltweit, einzuführen: Weniger Raubbau für die Produktion von Wegwerfartikeln, keine Überproduktion von Nahrungs- oder Futtermitteln, die oftmals  vernichtet werden, um den Preis zu stützen; Einschränkung der Monokulturen für den Export, die die Versorgung armer Bevölkerungsschichten gefährden, und vieles mehr.

 


[i]René Harather, Die Geschichte der Region und Stadt Ternitz, StadtgemeindeTernitz/NÖ; 1998

[ii]PRESSE-INFORMATION 2 anlässlich der 43. Jahrestagung der

Österreichischen Gesellschaft für Kinder- und Jugendheilkunde;14. September 2005

[iii]René Harather, Die Geschichte der Region und Stadt Ternitz, StadtgemeindeTernitz/NÖ; 1998

[iv]ORF, zitiert Verkehrsclub Österreich (VCÖ) am 14. 9. 2007

[v]Prof. Dr. Alexander Zehnder, ETH Zürich, interne Mitteilung, 2006

(Die bisher veröffentlichten Episoden dieser Serie finden sich unter https://www.facebook.com/kwoltron/notes)



(12.01.2015)

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Klaus Woltron

ist ein österreichischer Unternehmer , Buchautor und Kolumnist. Er ist Gründungsmitglied des Club of Vienna und war aktives Mitglied bis zum April 2008. Hier berichtet er u.a. über "Die Perestroika des Kapitalismus".

>> https://www.woltron.com/


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