Die Perestroika des Kapitalismus - Episode 3: Börsenkrach in Wien

Ein Börsenkrach (Wien 1873 - eine kleine Welt, in der die große ihre Probe hielt).  

Die Weltausstellung in Wien im Jahre 1873 führte in der damals noch recht verschlafenen Kaiserstadt zu einer nie dagewesenen Spekulationswelle. Die aufgeregte Bürger- und Kaufmannschaft versprach sich goldene Berge. Mieten erreichten ungeahnte Höhen,die Lohnforderungen der unzufriedenen Arbeiter ebenfalls.  

„Zahllose Leichtgläubige (…) ließen sich den Wahn nicht nehmen, die Weltausstellung werde auch auf die Börse Wunder wirken und füllten die kleinen Spielkomptoirs, die wie die Pilze aus der Erde schossen.“[i]

Das böse Ende ließ,nachdem sich die Hoffnungen auf einen großen Erfolg dieser Veranstaltung nicht erfüllten, nicht lange auf sich warten. 

„Am 9. Mai 1873 kam der von allen, die über gesunde Sinne verfügten, längst geahnte Börsensturz.Schon Jahre zuvor hatten geniale Finanzgauner, darunter Männer von Vermögen,Ansehen und Stellung, die große Masse von Dummköpfen und den gesunden Menschenverstand verhöhnt, gar nicht existierende Werte auf dem Papier fingiert, um damit Kartenhäuser zu bauen, die der erste Luftzug umwerfen musste. Und dieser Windstoß kam, nachdem seine Vorboten bereits einige Tage zuvor die Luft bewegt hatten, durch große Verkaufsaufträge aus dem Auslande,infolge welcher an der Börse  die leitende Kreditaktie in einer Stunde um fünfundzwanzig Gulden fiel. Alle anderen Papiere folgten nach und sanken bis zur vollständigen Wertlosigkeit.Dieses schmachvolle Treiben hatte mich stets mit dem tiefsten Abscheu erfüllt und ich war geradezu empört übe rdie Indolenz der Regierung,  die, ihre Hände im Schoße, ruhig zusah, ja, durch Erteilung von  Konzessionen  und durch die passive Intervention ihrer Kommissäre den offenen  Betrug und den grenzenlosen Schwindel zu autorisieren schien. Sie ließ  Banken, die gar nicht existierten, weder einen Schreibtisch noch einen  Sessel zu rVerfügung hatten, mit zwei Gedankenstrichen in den Rubriken "Geld"und "Ware" auf dem Kurszettel paradieren und fünfzig undmehr - prozentige  Dividenden versprechen. Zwei oder drei Verwaltungsräte irgendeiner Schwindelgesellschaft traten zusammen und erzeugten flugs  einen jungen Sprössling, dem sie ihre eigenen Aktien mit einem selbst geschaffenen  Agio anhingen, im Kurszettel das rapide Steigen desselben notifizierten und sich aus den Einzahlungen ihrer eigenen Aktionäre fette Tantiemen zahlen ließen. So gab es zum Beispiel eine"Vereinsbank" mit acht Millionen Gulden Aktienkapital, die in ihrer Generalversammlung  einen Reingewinn von drei Millionen herausrechnete und danach Dividende und Tantiemen bemaß … das leisteten einzelne niederträchtige Beutelschneider in den Börsekomptoirs. Prototyp derselben  war ein gewisser Placht, der sich selbst den höchsten Fruktifizierer ohne Risiko nannte und mit gut bezahlten Zeitungsreklamen eine unglaubliche Menge Schwachsinnige an sich zog. Am 19. Mai war er plötzlich verschwunden und es zeigte sich, dass er seinen Mitmenschen unter dem Vorwande der höchsten Fruktifikation nicht weniger als 2,760.000 Gulden abgeschwindelt  hatte, zu deren Deckung er seinen kaum beneidenswerten Gläubigem  bare 130 Gulden und Papiere im beiläufigen Werte von neuntausend Gulden  hinterließ … Lange genug hatte der Paroxismus der alle Gesellschaftsschichten durchseuchenden Gehirnpest gedauert,eingeschleppt durch schurkische Finanzkapazitäten, für die ein eigenes weitläufiges Zuchthaus hätte gebaut werden sollen … Welch deprimierenden Einfluss eine derartige Finanzkatastrophe,wie  sie Österreich noch nicht erlebt und gegen die der einstige Mississippi – Aktienschwindel  Laws [ii] ein Kinderspiel gewesen sein muss, auf die Weltausstellung  übte,bedarf keiner näheren Erörterung. Tausende von Familien  hatten ihre Habe verloren, aller Kredit war vernichtet, die Geschäfte  gerieten in völlige Stockung - woher sollte die Mehrzahl der Bevölkerung  Geld und Lust nehmen, sich lebhaft an der Weltausstellung zu beteiligen?  Wien stand wie ein Bankerotteur vor den ausländischen Gästen,  welche die durch die Kurszettel so ungemütlich gewordene, obendrein noch von der Cholera bedrohte Stadt verließen…“[iii]

Nach dem großen Wiener Börsenkrach 1873 gingen etliche Banken in Konkurs, viele Leute wurden an den Bettelstab gebracht, es gab zahlreiche Selbstmorde. Die Wirtschaft litt noch Jahre unter den Nachwirkungen dieses sogenannten "Gründerkrachs", der viele Ähnlichkeiten mit der Immobilienkrise 2008 aufweist – mit dem Unterschied, dass damals die Wirtschaft noch nicht globalisiert und die Auswirkungen daher weitestgehend auf lokale Ereignisse beschränkt blieben. 

Die Gründerkrise hatte zur Folge, dass der Staat wieder mehr in die Wirtschaftsabläufe eingriff und sich somit vom Wirtschaftsliberalismus verabschiedete. Konkret bedeutete dies die Abkehr von der Idee des Freihandels.Es war auch gleichzeitig der Beginn des Neo-Merkantilismus: Der Staat solltejetzt, im Gegensatz zum Wirtschaftsliberalismus, wieder bedingt in die Wirtschaftssteuerung eingreifen: Auch dies kommt dem Beobachter der Ereignisse anno 2008 recht bekannt vor.

(Die bisher veröffentlichten Episoden finden sich unter https://www.facebook.com/kwoltron/notes)

[i]Cajetan Felder „Erinnerungeneines Wiener Bürgermeisters“, Forum Verlag, Neuauflage 1984. 

[ii] John Law of Lauriston (* 16. April 1671 in Edinburgh; † 21. März 1729 in Venedig); schottischerNationalökonom und Bankier.

[iii]Cajetan Felder „Erinnerungen eines Wiener Bürgermeisters“, Forum Verlag,Neuauflage 1984. 



(17.10.2014)

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Klaus Woltron

ist ein österreichischer Unternehmer , Buchautor und Kolumnist. Er ist Gründungsmitglied des Club of Vienna und war aktives Mitglied bis zum April 2008. Hier berichtet er u.a. über "Die Perestroika des Kapitalismus".

>> https://www.woltron.com/


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