Welt der Arbeit: Gleitzeit, kaputte Menschen (Günter Luntsch)

"Willkommen in der neuen Welt der Arbeit". Am Freitag sind die meisten Leser schon auf dem Sprung ins Wochenende, da fehlen Zeit und Aufnahmefähigkeit, um einen HV-Bericht zu lesen. Dank der anstrengenden Raiffeisen-HV gestern habe ich nächste Woche eh genug zu tun. Außerdem: das Thema Nr.1 in meinem Freundeskreis war gestern das Werbevideo der Wirtschaftskammer zur Erhöhung der Tageshöchstarbeitszeit. "Flexibilisierung" klingt besser, aber bleiben wir bei der Außenwirkung: der Gemeine Österreicher sieht das eindeutig als Propagandavideo. Sorry, das Wort lässt sich nicht entschärfen, die Botschaft wird uns einfach zu plump aufs Auge gedrückt. Man merkt die Absicht und ist verstimmt. Man muss sich als Arbeitnehmer einfach nicht ernstgenommen vorkommen.

Zuallererst einmal ist das Vorhaben, nach Zusammenlegung der Krankenkassen und Rasterfahndung bei Krankenständen ein weiteres Vorhaben, das den kleinen Hacklern Angst einjagen kann, witzig bewerben zu wollen, schon grundsätzlich zum Scheitern verurteilt. Es geht nicht nur um die "Work-Life-Balance", also dass die Arbeitnehmer genug Zeit für Hobbys haben. Es mag wohl Arbeitsplätze geben, wo man gemütlich noch ein paar Stunden anhängen kann, und es ist keine besondere Belastung. Ich selbst kenne Menschen, deren Bürotätigkeit zum überwiegenden Teil aus Kaffeetrinken, Rauchen und Tratschen besteht. Aber das ist nicht der Regelfall. Ich kenne Arbeitsplätze, auch im Büro, die einen Menschen ziemlich kaputt machen, schon in 8 oder 10 Stunden. Die Menschen wollen nur noch schlafen, wenn sie nach dem Pendeln endlich daheim ankommen. Also: es geht hier um die Existenz des Menschen! Damit spaßt man nicht.

Die Realität sieht jetzt schon an vielen Arbeitsplätzen so aus: Gleitzeit bedeutet, dass man da sein muss, wenn der Chef es sagt. Gleitzeit bedeutet, dass man heimgehen sollte, wenn der Computer wieder einmal nicht geht, egal ob man mit dieser ungeplanten Freizeit etwas anfangen kann. Gleitzeit bedeutet selbstverständlich, dass man Arztbesuche in der Gleitzeit vorzunehmen hat. Und wenn man einmal wirklich Gleitzeit für private Erledigungen nehmen will, muss man sich selbst darum kümmern, dass man jemanden findet, der einen im Büro vertritt, das Telefon muss ja abgehoben werden, und eventuelle Kunden müssen empfangen werden. "Flexible" Arbeitszeit mag hie und da eine Erleichterung für den Arbeitnehmer sein, in vielen Fällen ist sie aber für den Arbeitnehmer von Nachteil. Insbesondere für den Arbeitnehmer, um den sich kein Betriebsrat und keine gesetzliche Arbeitnehmervertretung kümmert. Ja, sowas gibt es im Sozialpartnerstaat: Rechtlose Arbeitnehmer. Und da reden wir nicht nur von der Privatwirtschaft, ein privater Chef sollte zumindest wissen, dass es dem Wohlergehen der Firma nicht dienlich ist, wenn die Mitarbeiter kaputt gemacht werden. Die Öffentliche Hand ist noch viel ärger, man sieht immer nur die Beamten, nicht aber die vielen Vertragsbediensteten, die nicht einmal die Rechte der Privatangestellten haben. Also: es gibt in Österreich mehr als genug Menschen, die in der Arbeit oder nach der Arbeit zusammenbrechen. Die hohe Zahl an Menschen, die wegen ihrer Arbeitsbedingungen in psychotherapeutischer Behandlung sind, ist erschreckend. Das tut auch der Allgemeinheit weh, denn viele dieser Menschen sind so kaputt, dass sie überhaupt nicht mehr arbeitsfähig werden. Von irgendwas aber müssen sie leben. Und irgendwann werden sie auch in Pension gehen, zwar mit weniger Pension, weil sie einige Jahre arbeitsunfähig waren, aber es ist kein Gewinn für die Volkswirtschaft, wenn Menschen an ihren Arbeitsbedingungen kaputt gehen. Von den horrenden Kosten für die nötigen Therapien ganz zu schweigen.

Und dann produziert jemand aus Langeweile so ein Video, das spaßig sein soll. Für viel Geld, hört man. Egal, kommt eh von Mitgliedern, die ihre Wirtschaftskammerbeiträge mit Freude zahlen und stolz auf so ein Werbevideo sind. Mitnichten. Die Worte "peinlich", "So ein Schmarrn" bis hin zu "Mir fehlen die Worte, ich bin schockiert" sind in meinem Freundeskreis gefallen, und zwar von Wirtschaftstreibenden, Arbeitnehmern, Pensionisten und Arbeitslosen gleichermaßen. Im Video zu hören: Dass es dem X gut geht, wenn es dem Y gut geht. Wieso? Wenn es jemand anderem gut geht, heißt das noch lange nicht, dass es mir gut geht. Im Video zu sehen: Arbeitnehmer, die sich wie ferngesteuert an ihrem Arbeitsplatz und später in den Freizeitstress bewegen. Also eh schon mit einem Fuß im Burnout. Kein Lächeln, keine sichtbare positive Emotion. Dann in den Helikopter, eh klar, sowas hat man als Gemeiner Arbeitnehmer ja, oder in den Flieger, mit dem man auch gleich in den Kindergarten fliegt, ich dachte sofort an die Twin Towers, aber zum Glück kann man durch das Kindergartengebäude durchfliegen, ohne etwas zu beschädigen. Und dann versuchen die Figuren krampfhaft, im Urlaub am Wasser zu entspannen, mit riesigen Büchern/Ordnern und sogar einer Monsterbüroklammer. Wenn man das alles in den Urlaub mitnimmt, na danke, dieser Urlaub wird garantiert nicht erholsam.

Mein Rat an die Auftraggeber dieses Videos: Bitte die Mitgliedsbeiträge sinnvoller verwenden! Dieses Video ist absolut kontraproduktiv und kommt nicht einmal bei Euren Mitgliedern gut an! Redet mit PR-Experten, die Ihr sicher in der Wirtschaftskammer auch habt, bevor Ihr so etwas andenkt. Ich weiss, es ist verdammt schwer, ein lustiges Video zu produzieren, aber in diesem Fall wäre das einzig richtige gewesen, es gar nicht erst zu versuchen. Mit so einem ernsten Thema spielt man nicht. Ich möchte diese "Flexibilisierung" jetzt nicht unbedingt positiv oder negativ bewerten, aber man muss das doch in normalen Worten kommunizieren können, was die Auswirkungen (angestrebt: Vorteile) dieser Gesetzesänderung sind. Klare, ehrliche, ausführliche Worte versteht das Volk besser als einen Trickfilm mit schlechtem Liedtext. Macht einfach klar, um welche Branchen es geht, und was wirklich die Vorteile für Firma und Arbeitnehmer sind! Dass die Arbeitnehmer die (einzigen) Profiteure sind, das glaubt bestimmt niemand. Außerdem: Die Gesetzesänderung ist Sache der Regierung. Wer so ein Werbevideo produziert, der erregt den Verdacht, dass die Gesetzesänderung in seinem Interesse ist. Was den, über den man grade drüberfahren will, nicht unbedingt positiv für diese Änderung stimmt.

Wer sich das Donauinselfest nicht leisten kann, der kann Musik also auch daheim konsumieren, für Hörgenuss garantiere ich nicht, voilá: https://www.youtube.com/watch?time_continue=186&v=hAdMSQA9_XQ



(24.06.2018)

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Günter Luntsch

#gabb Autor, siehe http://boerse-social.com/...

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