Die Perestroika des Kapitalismus - Episode 4: Glasnost und Perestroika in neuem Gewand (Klaus Woltron)

Die Herausforderung: Zähmung des Kapitals

 „Den Massenwohlstand verdanken wir der Marktwirtschaft, der Kapitalismus hat ihn eine Zeit lang vorangetrieben, heute bedroht er ihn – und er bedroht auch die Marktwirtschaft selbst. Um diese Bedrohung abzuwehren, muss der Kapitalismus gezähmt werden. Um zu wissen, wie er gezähmt werden kann, muss man die Quelle der Bedrohung kennen. Sie liegt in der Unverantwortlichkeit des Kapitals.“[i]

Präziser sollte es wohl heißen: "…in der unverantwortlichen Nutzung und Verwendung  des Kapitals". Kapital (einer der drei Produktionsfaktoren, neben Arbeit und Grundbesitz),  Chiffre für Wert, gefrorene Macht,gespeicherte Vergütung für erbrachte Leistungen, Pfand für irgend jemandes Schuld,  wie immer man es auch definieren mag, ist per se weder gut noch böse. Es kommt, wie bei vielen von Menschen gemachten Dingen, darauf an, wie man es verwendet und welchem Stellenwert man ihm in der Gesellschaft beimisst. 

Jeder Mensch, der  Verantwortung zu tragen hat, jeder, der mit offenen Augen durch die Welt geht – kurzum, jeder von uns – spürt, dass die Welt einem fundamentalen Änderungsprozess unterworfen ist, der mit zunehmender Geschwindigkeit abläuft. Die Ereignisse auf den Kapitalmärkten sind nur ein,allerdings sehr aktuelles und schmerzhaftes, Symptom für diese Entwicklung. 

Brasilien, das schöne Land, in dem ich mir zu Ende der Siebziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts meine ersten Sporen verdiente, hatte damals 110 Millionen Einwohner, von denen die meisten – immer fröhlich auf Besserung hoffend – in Armut lebten. Heute, nur knapp dreißig Jahre später,sind es fast 190  Millionen, und ihre Zuversicht hat deutlich abgenommen. Die Folgen dieser Entwicklung, verknüpft mit einer enormen Zunahme des durchschnittlichen Energie- und Rohstoffverbrauchs des einzelnen Menschen, sind offensichtlich und müssen hier nicht nochmals dargelegt werden. Viel wichtiger schien und scheint es mir bis zu einem gewissen Grade auch noch heute herauszufinden, was die Menschheit als Ganzes und jeder Einzelne von uns tun könnte, um den desaströsen Folgen der Bevölkerungsexplosion, der Wirtschaftsordnung des rücksichtslosen globalen Wettbewerbs und den dadurch in anderer Gestalt wiedergeborenen Apokalyptischen Reitern entgegenzuwirken. Ob erfolgreiche Gegenstrategien zumindest denkbar sind, inwieweit die kollektive Uneinsichtigkeit der Menschheit, die es, wie der Ausdruck verfälschend zu suggerieren versucht, als„–heit“ eigentlich nicht gibt, soll in der Folge erörtert werden. 

 

Meine Schlussfolgerungen werden ganz gewiss sowohl für überzeugte Anhänger des Neoliberalismus als auch für dessen erbitterte Gegner gleichermaßen schwer verdaulich sein. Darin mag ein Teil ihrer Originalität und – vielleicht − auch praktischen Anwendbarkeit liegen. 

 

Glasnost und Perestroika in neuem Gewand

 

„Die Vorgaukelung einer problemfreien Realität rächte sich … die Diskrepanz zwischen  Worten und Taten erzeugte Passivität und Skepsis gegenüber verkündeten Parolen “ (Michail Gorbatschow[ii])

 

Als „Glasnost“bezeichnete  Michail Gorbatschow[iii] die in der Sowjetunion eingeführte Politik einer größeren Transparenz und Offenheit der Staatsführung gegenüber der Bevölkerung. Ab Beginn der 80er Jahre des vergangenen Jahrhunderts zeigten sich im zentral gelenkten Riesenreich der UdSSR immer stärkere wirtschaftliche und soziale Verfallserscheinungen. Der militärische Wettbewerb mit den westlichen Industriestaaten, welcher von den USA bewusst forciert worden war, laugte die schwerfällige Wirtschaft der sozialistischen Staaten aus und führte zu einer zunehmenden Unzufriedenheit und Unruhe der Bürger. Lange Zeit durch Propaganda und Selbstbetrug der abgehoben agierenden herrschenden Schichten verdrängt, wurde der lähmende Stillstand immer sichtbarer. Die Entwicklung verselbständigte sich und entglitt zunehmend der Kontrolle. Außenpolitisch wurde notgedrungen eine umfassende Politik der Entspannung und Abrüstung eingeleitet. 1986 ereignete sich überdies in der Ukraine die Katastrophe von Tschernobyl, die zweitschwerste nukleare Havarie der Geschichte, die den dramatischen ökologischen Rückstand und die mangelhafte Rücksichtnahme auf die Bürger des realsozialistischen Systems offenbarte.

 

1987 kündigte Gorbatschow, die Zeichen der Zeit und der Vermorschung des kommunistischen Reiches erkennend, Glasnost, also mehr Transparenz, und, in der Konsequenz,  Perestroika, Umbau, an. Vier Jahre danach krachte das Riesenreich dennoch zusammen. Das globale Gleichgewicht musste Neoliberalismus und Globalisierung weichen. Die europäischen Wohlfahrtsstaaten steuerten auf die Unfinanzierbarkeit ihrer Sozialsysteme zu und verabschiedeten sich von einem großen Teil ihrer Staatsbetriebe und sozialen Benefizien. Linke und Rechte des politischen Spektrums hatten einander als Erzfeinde und vorgebliche Wurzel allen Übels für etwa 25 Jahre verloren.  Nach einer kurzen Phase der Euphorie zeigt sich jedoch, dass die Welt auch ohne die Bedrohung des Kalten Kriegs neuen und auch noch vielen der alten Probleme gegenübersteht. Wieder bilden sich – diesmal noch ohne scharfe Entsprechung auf der politischen Landkarte – zwei feindliche Lager: Anhänger und Gegner der Globalisierung und des Neoliberalismus. Die allermeisten der Symptome sind allerdings nicht neu,  nur intensiver. Der Hauptgrund dafür liegt auf der Hand: 1804 bestand die Weltbevölkerung aus einer Milliarde Menschen, dann setzte ein rapides Bevölkerungswachstum ein. Innerhalb des 20.Jahrhunderts ist die Weltbevölkerung gewissermaßen explodiert. 1927: 2 Milliarden, 1960: 3 Milliarden, 1974: 4 Milliarden, 1987: 5 Milliarden und 1999: 6 Milliarden Menschen. Die 7-Milliarden-Marke wird voraussichtlich im Jahr 2012 erreicht.

 

Die Bevölkerungsexplosion geht mit einer Reihe von weiteren Entwicklungen einher,die einander überlagern, beeinflussen und zum Teil potenzieren. Einen wesentlichen Beitrag zur Komplizierung der Verhältnisse lieferten die Industriestaaten,als sie die Schwellenländer als Absatzmärkte und verlängerte Werkbänke entdeckten, was bis heute zu Spannungen innerhalb und zwischen diesen Blöcken führte. Davon später noch mehr. 

Die Vielfalt und die Interdependenz der Probleme führen zu den bekannten, stark vereinfachenden und zum Teil einfach falschen Erklärungen und Rechtfertigungen der herrschenden Übelstände. Logischerweise erweist es sich als schwierig, eine Basis für wirksame und sinnvolle Gegenstrategien zu finden. Es ist allerdings viel leichter, sich auf einen einfachen, fundamentalistischen Standpunkt zu stellen und damit billigen populistischen Profit herauszuschlagen, als sich in das komplexe Wirkungsgeflecht der vielen Faktoren, mit denen man es zu tun hat, zu vertiefen. Dies gilt für den platten Ideologen des Laissez-faire[iv] genau so wie für unbelehrbare Kollektivisten oder unreflektiert und unüberlegt, oft rein emotional argumentierende und agierende "Grünbewegte".  


[i]Gerhard Scherhorn,  Vortraganlässlich des Symposiums „Kapitalismus gezähmt? Pro und contra Neoliberalismus“ des Club of Vienna am 22. Januar 2004

[ii] Michail Sergejewitsch Gorbatschow; „Perestroika“;Droemer  Knaur 1987; ISBN3-426-26375-0

[iii]Michail Sergejewitsch Gorbatschow,  * 2. März 1931, russischer Politiker,  von März 1985 bis August 1991 Generalsekretär des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei der Sowjetunion, von März 1990 bis Dezember 1991 Präsident der Sowjetunion. Durch seine Politik der Glasnost(wörtlich: Offenheit) und der Perestroika (wörtlich: Umbau) leitete er das Ende des Kalten Krieges ein. Er erhielt 1990 den Friedensnobelpreis.

[iv]Ab dem 19. Jahrhundert wurde eine radikale Form des Wirtschaftsliberalismus auch als „Laissez-faire-Liberalismus“bezeichnet

 

(Die bisher veröffentlichten Episoden dieser Serie finden sich unter https://www.facebook.com/kwoltron/notes)

 



(24.10.2014)

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Klaus Woltron

ist ein österreichischer Unternehmer , Buchautor und Kolumnist. Er ist Gründungsmitglied des Club of Vienna und war aktives Mitglied bis zum April 2008. Hier berichtet er u.a. über "Die Perestroika des Kapitalismus".

>> https://www.woltron.com/


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